Akute Belastungsreaktion

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 15. November 2021
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

Sie sind hier: Startseite Krankheiten Akute Belastungsreaktion

Eine akute Belastungsreaktion ist die psychische Antwort auf ein traumatisches Erlebnis. Damit die Betroffenen das Erlebte verarbeiten können und möglichst schnell in den Alltag zurückfinden, ist eine psychologisch oder psychosomatische Betreuung von Anfang an wichtig.

Inhaltsverzeichnis

Was ist eine akute Belastungsreaktion?

Eine akute Belastungsreaktion ist meist die Folge eines traumatischen Erlebnisses. Schuldgefühle und Angstzustände sind typische Symptome.

Eine akute Belastungsreaktion, kurz ABR oder acute stress disorder, gilt als Folge von extremen psychischen Belastungen. Die Betroffenen verfügen über keine eigene Bewältigungsstrategie.

Die Belastungsreaktion sollte nicht mit der Belastungsstörung verwechselt werden. Die Reaktion zeigt nämlich keine Störungssymptome im Sinne einer Erkrankung. Auslöser sind häufig körperliche oder seelische Gewalt sowie Verlustängste. Auch der Tod eines geliebten Menschen oder die Konfrontation mit Unfällen kann zu einer Belastungsreaktion führen. Bei sensiblen bzw. labilen Menschen können aber auch weniger gravierende Erlebnisse zu einer Belastungsreaktion führen.

Ursachen

  Menschen, die Opfer oder Zeuge eines schweren Unfalls wurden, sind häufig traumatisiert. Auch die medizinischen Helfer können durch extreme Situationen eine akute Belastungsreaktion zeigen, weil Sie die Eindrücke nicht verarbeitet bekommen. Die Frage vieler Opfer nach dem “WARUM“ oder “WIESO ICH“ kann zermürbend sein, und die Psyche akut aber auch nachhaltig schädigen. Auch Naturkatastrophen, die hautnah miterlebt wurden, führen häufig zu einem Gemütszustand, der akute Belastungsreaktionen auslöst.

Sehr häufig sind Menschen aus Kriegsgebieten betroffen. Ständig hören Sie die Leid bringenden Panzer und Flugzeuge sowie den Bombenhagel. Die Geräusche lassen Sie nicht zur Ruhe kommen, Sie werden vielmehr über eine oft lange Zeit von ihnen regelrecht verfolgt. In diesem Zusammenhang sind aber auch die Soldaten nicht zu vergessen. Unter Ihnen sind viele, die sich über Leid und Elend, “dass durch Sie (im Auftrag von Oberbefehlshabern und Regierungen) angerichtet wurde“ im Klaren sind. Aber andererseits können Sie erstens mit der “Schuld“, die Sie durchaus auch bei sich sehen, nicht klar kommen, und andererseits werden Sie die Bilder des Erlebten nicht mehr los.

Katastrophen- und Entwicklungshelfer müssen häufig vom Einsatzgebiet abgezogen werden, weil Ihre Kräfte aufgebraucht sind und Sie am Rand Ihrer physischen und psychischen Belastbarkeit erste akute Belastungsreaktionen zeigen. Wer weiß, was das Pflegepersonal in Krankenhäusern täglich auch auf zwischenmenschlicher Ebene zu leisten hat, wird verstehen, dass Sie mehr oder weniger akut immer mal wieder unter einer akuten Belastungsreaktion leiden.

Wie sieht es mit der Bewältigung persönlicher Schicksalsschläge aus? Der Verlust eines Elternteils, der Kinder oder eines geliebten Menschen generell kann zu einer akuten Belastungsreaktion führen. Der Verstorbene hinterlässt eine Lücke, die zunächst Angst bereitet, weil sie nicht zu schließen ist. Es tut sich ein emotionales Loch auf. Auch wer Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, leidet häufig unter akuten Belastungsreaktionen. Opfer einer Vergewaltigung zum Beispiel fühlen sich nicht selten schmutzig und haben massive Probleme eine Bindung gleich welcher Konstellation einzugehen. Im Berufsleben führen Mobbing (besonders anhaltendes oder ständig wiederkehrendes), Neid, Ausgeschlossensein aber auch Unterforderung bzw. Überforderung zu Verhaltensmustern, die durchaus eine akute Belastungsreaktion darstellen.

Wann zum Arzt?

Bei einer akuten Belastungsreaktion ist es ratsam, einen Arzt aufzusuchen, sobald der Betroffene das Bedürfnis nach Unterstützung hat. Die Einschätzung und das Erleben einer belastenden Situation unterliegen einer individuellen Bewertung. Die Auswirkungen des Erlebten zeigen bei jedem Menschen andere Symptome. In vielen Fällen werden Gespräche mit nahen Angehörigen, dem Partner oder Freunden als ausreichend empfunden.

Kommt es zu einer Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens und können berufliche wie soziale Anforderungen nicht mehr wie gewohnt bewältigt werden, sollte ein Arzt aufgesucht werden. Anhaltende Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Übelkeit sind ebenfalls von einem Mediziner abzuklären. Weitere vegetative Auffälligkeiten wie Magenschmerzen, Durchfall, Herzrasen oder Schweißausbrüche sollten von einem Arzt untersucht werden. Halten die Symptome länger als zwei Wochen an oder verstärken sie sich, sollte ein Arzt aufgesucht werden. Bei einer Desorientierung, starken Wahrnehmungsdefiziten, zunehmenden Schuldgefühlen oder einem aggressiven Verhalten muss ein Arzt aufgesucht werden.

Die Einnahme von Beruhigungsmedikamenten sollten mit einem Mediziner besprochen werden. Es können weitere Nebenwirkungen auftreten, die vor der Gabe der Medikamente abgeklärt werden müssen, um Unverträglichkeiten zu vermeiden. Treten Ängste, anhaltende Erschöpfungszustände oder eine auffallende Gewichtsveränderung ein, ist ein Arztbesuch notwendig. Es drohen weitere psychische Erkrankungen, die untersucht und medizinisch sowie therapeutisch versorgt werden müssen.

Symptome und Verlauf

Typische Symptome einer akuten Belastungsreaktion:

  • Verlustängste
  • Schuldgefühle
  • Wahrnehmungsstörung
  • Desorientiertheit
  • Aggression

Der peritraumatische Zeitraum (die Akutphase) ist geprägt von einer wie betäubt wirkenden Person, die in unterschiedlichen Situationen wichtige Fakten und/oder Vorgänge nicht zu bemerken scheint. Auch kann es zu Handlungen kommen, die deplatziert und sinnlos erscheinen. In diesem Stadium wird unter Medizinern und Therapeuten von einer Bewusstseinseinengung oder Wahrnehmungsstörung bzw. Desorientiertheit gesprochen.

Viele der Betroffenen berichten, dass Sie das Gefühl haben, nicht mehr Sie selbst zu sein oder alles wie durch eine Kamerabetrachtung zu erleben. Die Rede ist von dissoziativen Symptomen. Sie sind das eindeutige Merkmal dieser Depersonalisation bzw. Derealisation. Die starken emotionalen Schwankungen, unter denen fast alle leiden, können sich unter Umständen in Minutenschnelle ändern. Wut oder Aggression wechseln beispielsweise ohne vorherige Anzeichen oder Auslöser in Lethargie.

Eine vegetative Symptomatik kann hinzukommen. Damit sind die weitläufig bekannten Stressreaktionen wie Herzrasen, Übelkeit und Schwitzen angesprochen. Kommt es zur Verarbeitungsphase, ändern sich die Symptome (Beschwerden) und nehmen in den meisten Fällen gegen Ende vollständig ab. Eine Intrusion (nochmaliges Erleben der Ereignisse) ist sehr häufig anzutreffen und führt dazu, dass die Ereignisse im Alltag ihren Platz finden. Dieses Phänomen ist vielen als Flashback oder auch als Albträume bekannt.

Führen Wahrnehmungen zu einer Erinnerung an die belastende Situation, ist von Triggern die Rede, die solche Flashbacks auslösen. Meistens handelt es sich um Geräusche oder Gerüche. Viele tendieren anschließend zu einem stark ausgeprägten Vermeidungsverhalten (nicht mehr aufs Pferd steigen, die Unfallstrecke weiträumig umfahren usw.). Eine emotionale Verflachung (Einschränkung der Empfindungsfähigkeit) ist ebenso häufig anzutreffen. Sehr häufig kommt es zu einem erhöhten Erregungsniveau, das begleitet ist von Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Einschlafstörungen sowie extremer Reizbarkeit. Eine akute Belastungsreaktion kann auch in Form von Weinkrämpfen, Wutausbrüchen aber auch Erschöpfungszuständen bis hin zu körperlichen Symptomen durch eine mentale Belastungssituation entstehen.

Diagnose

Durch eine einfühlsame und von größter Rücksichtnahme sowie Respekt geprägten Befragung kann der Therapeut nicht nur auf das zurückliegende Ereignis schließen, sondern auch Zugang zu seinem Patienten erhalten, damit dieser sich öffnet und die extrem wichtige Therapiebereitschaft signalisiert. Von größter Wichtigkeit ist, dass die Chemie zwischen Patient und Therapeut stimmt. Ist dies nicht der Fall, sollte von beiden Seiten ein Therapeutenwechsel angesprochen und auch schnellst möglich durchgeführt werden. Gleichzeitig ist die akute Belastungsreaktion von anderen Reaktionen, die dann in den Bereich einer Störung einzuordnen sind, abzugrenzen.

Dazu gehört die posttraumatische Belastungsstörung, kurz PTBS genannt. Dauert die akute Belastungsreaktion länger als vier Wochen an und ist sie mit einer psychischen oder sozialen Beeinträchtigung verbunden, ist das Stadium einer PTBS erreicht. Es liegt sodann eine Erkrankung vor, die therapiebedürftig ist. Auch die Abgrenzung zu einer Anpassungsstörung, die häufig nach einer Scheidung auftritt, ist erforderlich. Kann sich der Patient nicht nach ca. sechs Monaten mit der neuen Situation arrangieren oder im besten Fall anfreunden, muss von einer Anpassungsstörung ausgegangen werden.

Komplikationen

Die akute Belastungsreaktion kann sich zu einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) entwickeln, wenn das Trauma nicht bewältigt wird. Allerdings kann die PTBS auch ohne vorhergehende akute Belastungsreaktion auftreten. Umgekehrt muss ein Trauma nicht zu einer PTBS führen, sondern kann auch andere psychische Störungen hervorrufen. Bei einer frühen Konfrontation mit dem Trauma besteht zudem die Gefahr einer Retraumatisierung. Weitere mögliche Komplikationen der akuten Belastungsreaktion sind Depressionen und Ängste. Diese treten oft jedoch nicht immer unmittelbar nach der Traumatisierung auf, sondern entwickeln sich zum Teil auch erst nachträglich. Die akute Belastungsreaktion kann als „Tor“ für andere psychische Störungen dienen und nicht nur ihre Entwicklung begünstigen, sondern auch einen Rückfall auslösen.

Einige der Betroffenen zeigen selbstverletzendes Verhalten. Mögliche Verletzungen sind beispielsweise Schnittwunden (durch Schneiden/Ritzen), Verbrennungen, das Ausreißen von Haaren oder stumpfe Verletzungen. Die Selbstverletzung kann auch zu medizinischen Komplikationen führen, wenn sich beispielsweise eine Wunde entzündet, schlecht verheilt oder zu Infektionen führt. Suizidalität ist eine schwerwiegende Komplikation, die bei der akuten Belastungsreaktion ebenfalls möglich ist. Selbstverletzendes Verhalten ist jedoch nicht in jedem Fall ein Zeichen für eine akute Selbstmordgefährdung: Es kann auch als nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten auftreten. In einigen Fällen richtet sich die Aggression des Betroffenen nicht gegen sich selbst (Autoaggression), sondern gegen andere Personen und Objekte. Dadurch können auch soziale Komplikationen entstehen.

Behandlung und Therapie

In der WHO (International Classification of Diseases) ist die akute Belastungsreaktion als F43.0 kodiert und besitzt zunächst erst einmal keinen Krankheitswert. Sie gilt vielmehr “einer normalen Reaktion der menschlichen Psyche auf außergewöhnliche Erfahrungen“. Weil sich eine akute Belastungsreaktion schon wenige Minuten nach einem Ereignis einstellen kann, ist sofortige Hilfe unabdingbar. Eine sogenannte Krisenintervention beispielsweise am Unfallort hilft den Betroffenen bei der Verarbeitung. Dieser Erstversorgung muss sich sehr zeitnah eine psychotherapeutische Betreuung anschließen. Diese kann durch einen Facharzt für Psychotherapie oder Psychiatrie erfolgen. Damit bestehen gute Chancen, damit sich aus einer akuten Belastungsreaktion keine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt.

Diese Behandlung kann über die Krankenkassen aber auch über die Rentenversicherungsträger erfolgen. Wer Opfer einer Gewalttat wurde, kann auch über den “Weißen Ring“ entsprechende Adressen oder sogar eine Begleitung bzw. Betreuung erhalten. Zeigen sich sehr massive Erregungszustände, kann zur Beruhigung durch den Arzt kurzzeitig ein Psychopharmaka verabreicht werden. In eine Therapie eingebunden sind auch die Selbstheilungskräfte, die jeder Mensch in sich trägt. Diese werden unterstützt, wenn Betroffenen die Möglichkeit geboten wird, zu reden, zu erzählen oder einfach in Ruhe durchzuatmen.

Zu wissen, da ist jemand, der hat Verständnis, der bietet mir seine Schulter zum Anlehnen, kann effektiv helfen, akute Belastungsreaktionen abzubauen und das Erlebte besser zu verarbeiten. Menschen im Umfeld von Betroffenen sollten auch signalisieren, dass Angst, Unsicherheit, Scham aber auch Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, völlig normal sind. Diese Art der Unterstützung ist sehr wichtig, damit der private und berufliche Alltag möglichst schnell wieder gelebt werden kann. Dieses Ziel ist auch Bestandteil einer professionellen Therapie. Eine weitere Möglichkeit, um die innere Ruhe wieder herzustellen, besteht in der Umsetzung von Entspannungs- und Atemübungen. Dafür sollten die eigenen Vorlieben oder Interessen berücksichtigt werden, damit sich während der Teilnahme auch ein Wohlfühleffekt einstellen kann.


Vorbeugung

Die akute Belastungsreaktion ist keine Krankheit, der man zum Beispiel mit einer gesunden Lebensweise vorbeugen kann. Sie ist vielmehr eine Antwort der menschlichen Psyche auf ein individuell traumatisches Erlebnis.

Quellen

  • Payk, T.: Checkliste Psychiatrie und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2013
  • Dilling, H. & Freyberger, H.J.: Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen, Huber Verlag, 6. Auflage 2012
  • Bergner, T. M. H.: Burnout-Prävention. Schattauer, Stuttgart 2012
  • Herold, G.: Innere Medizin. Selbstverlag, Köln 2012
  • Tölle, R., Windgassen, K.: Psychiatrie. Springer, Berlin 2014

Dieser Artikel wurde unter Maßgabe der aktuellen medizinischen Fachliteratur und fundierter wissenschaftlicher Quellen verfasst.
Qualitätssicherung durch: Dr. med. Nonnenmacher
Letzte Aktualisierung am: 15. November 2021

Sie sind hier: Startseite Krankheiten Akute Belastungsreaktion

Das könnte Sie auch interessieren